Andere Dinge dagegen, die schon lange zurückliegen, sind im Gedächtnis noch so gegenwärtig, als wären sie erst gestern geschehen. Ein Ereignis, an das sich die Bewohner des Gemarker Gemeindestifts in der Hugostraße bis heute gut erinnern, ist der Tagesausflug zum Haus Rüdenstein in Solingen. Das war noch vor Corona. Ich habe die Gruppe an dem Tag mit begleitet.
Der Bus war zur verabredeten Zeit zur Stelle. An dem Ausflug nahmen etwa 30 bis 35 Bewohner teil, zu denen noch 15 bis 20 Mitarbeiter kamen. Der Bus hatte eine eigene Hebebühne für die Rollstuhlfahrer, im Bus wurden die Rollstühle dann am Boden fixiert. Neben mir saß eine Bewohnerin, die die Orte, an denen wir vorbeikamen, von früher kannte. Ihr Kommentar: Hier ist ja nichts mehr so wie es einmal war! Gegen 14.30 Uhr kamen wir an der Gaststätte Rüdenstein an. Das Haus liegt nur einen Steinwurf von der Wupper entfernt. Die Anfahrt war für den Busfahrer nicht einfach, denn die Straßenführung in dem kleinen Ort ist eng und verschachtelt. Ein paar Mal hatten wir Angst, dass der wuchtige Bus beim Abbiegen eine Hauswand mitnimmt. Aber der Mann war ein Profi, der uns und den Bus unbeschadet ans Ziel gebracht hat. Am Ende hoben alle lachend ihre Hände und applaudierten dem Busfahrer wie einem Piloten, der seinen Flieger sicher auf der Rollbahn gelandet hat.
Arme einer Reisegruppe, die nach oben gehen. Dieses Bild fiel mir kürzlich wieder ein. Mein Mann und ich waren auf einer Wanderung oberhalb des Klosters Maria Laach am Laacher See. Auf einmal, mitten im Wald, sahen wir eine Holzstatue. Sie stand da auf einem hölzernen Sockel, ein paar Meter abseits des Weges. Die Skulptur zeigte eine weibliche Gestalt, etwa 2 Meter groß. Sie hatte ihre Arme weit in die Höhe gestreckt, in den Händen hielt sie eine orangefarbene rechteckige Tafel. Auf ihrem Gesicht war der Anflug eines Lächelns. Das Benediktiner-Kloster Maria Laach verfügt über eine eigene Werkstatt für Bildhauerei. Wir haben uns gefragt: Was mochte sich der Bildhauer bei dem Gegenstand gedacht haben, den er seiner Figur in die Hände gelegt hat? Ich vermute, er wollte damit eine Erfahrung zum Ausdruck bringen, die Menschen in ihrem Leben, aber auch das Kloster Maria Laach im Laufe seiner Geschichte immer wieder gemacht hat:
Wer zum Himmel aufblickt und sich dem Himmel entgegenstreckt, der bekommt Gottes himmlischen Segen zu fassen.
Das Kloster Maria Laach hat Zeiten des Segens erlebt, aber auch andere. In der Folge der Napoleonischen Kriege und der Besetzung der Rheinlande durch französische Truppen wurde das Kloster 1801 enteignet. Alle Ländereien und alle bewegliche Habe gingen in den Besitz des französischen Staates über. Im August 1802 wurde das Kloster schließlich säkularisiert, d.h. ganz aufgehoben. Auch im Leben unserer Senioren gab es zuletzt nicht nur Segen. Einige Bewohner unserer Häuser waren an Corona erkrankt und mussten auf ihren Zimmern isoliert werden. Besonders schmerzhaft waren die Monate, als unsere Hausbewohner im Lockdown waren und keinen persönlichen Kontakt zu ihren Familien haben durften. Dieser Kontakt hat ihnen sehr gefehlt.
In Zeiten der Not sieht es manchmal so aus, als ob Gott seine segnende Hand zurückgezogen hätte, aber das scheint nur so. Im November 1892 konnte die Abtei Maria Laach von Benediktinermönchen wiederbesiedelt werden. Es war ein Neuanfang, der bis heute Bestand hat. Die meisten an Corona erkrankten Bewohner in den Einrichtungen der Diakonie haben die Infektion gut überstanden. Aber auch für die Verstorbenen bedeutete der Tod nicht das Ende von Gottes Segen. Wenn ein Mensch verstirbt, dann wirkt Gottes Segen wie eine Hebebühne, die die Seele des Verstorbenen von dieser Welt an einen höheren himmlischen Ort bringt. Dieser Ort, so glauben wir Christen, kennt keine Not und kein Leid, sondern nur Lachen und selige Freude. Jedes Lächeln, das wir uns heute schenken, ist ein Vorgeschmack dieser kommenden Herrlichkeit.
Iris Fabian, Pastorin der Diakonischen Altenhilfe Wuppertal